Digitiale Opernpremieren:Wenn die Urne explodiert

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Achtung, hier tropft es von der Decke! Szene aus Leoš Janáceks Oper "Jenůfa", inszeniert von Damiano Michieletto an der Staatsoper Berlin. (Foto: Bernd Uhlig/Staatsoper unter den Linden)

"Jenůfa" an der Berliner Staatsoper, dirigiert von Simon Rattle. "Orphée et Euridice" in Zürich, inszeniert von Christoph Marthaler. Zwei Fälle von zerstörerischer Liebe - und ihrer Errettung durch die Musik.

Von Reinhard J.Brembeck

Wie ein Irrsinniger sticht der Mann mit seinem Messer auf den metergroßen Quader aus Eis ein, den er, in einen Teppich gewickelt, auf die Bühne der Berliner Lindenoper geschleppt hat. Das Eis ist schon am Tauen, es birst leicht unter den Messerhieben. Zuletzt liegt eine grausig zerfetzte Eisoberfläche da. So kalt und tot, wie es die Liebe des reichen, arroganten Števa zur Titelheldin aus Leoš Janáceks Oper "Jenůfa" vielleicht von Anfang war und jetzt auf jeden Fall ist. Nur Sex, keine Gefühle. Dumm nur, dass die Frau aus der Unterschicht jetzt ein Kind erwartet.

In Zürich dagegen ist die Geliebte bereits tot, wenn der Vorhang aufgeht. Wie aber zeigt man eine abwesende Tote auf dem Theater, sodass dem Zuschauer in jedem Moment klar ist, dass die Frau a) wichtig und b) tot ist? Christoph Marthaler, der große Musikdekonstrukteur, hat dafür eine einfache Antwort gefunden. Euridice ist bei ihm längst eingeäschert, und die Urne wird von dem vertrauten Marthaler-Personal aus Buchhaltern und aus der Zeit gefallenen Mannequins, allesamt Akrobaten, stumm durch die von Anna Viebrock erdachten, leicht schäbigen Kantinenräume getragen, pausenlos, hin und her, wird mit dem Aufzug einen Stock nach oben und nach unten gefahren, stets dem trauernden Orpheus vorenthalten und auf dem Höhepunkt von Christoph Willibald Glucks französischer Kurzoper "Orphée et Euridice" kurzerhand per Fernzünder gesprengt. Bumm.

Es gehört zu den Segnungen des Digitalseuchenzeitalters, dass der Opernaficionado sich ohne Ortswechsel und quasi gleichzeitig in die großen Opernhäuser einklinken kann. Besonders am vergangenen Wochenende, an dem viele Häuser nach langem Stillhalten wieder einmal Premieren ansetzten. Sie hatten lange gehofft, dass sie vor Publikum stattfinden könnten. Es ist anders gekommen. Wer nun als Zuschauer von zu Hause aus binnen weniger Stunden "Orphée et Euridice" und "Jenůfa" erlebt, dem fallen die unvereinbaren Unterschiede zwischen dem nachbarock-frühklassischen Gluck und dem spätromantisch-naturherben Janácek auf, 130 Jahre liegen zwischen den Stücken. Vor allem aber fällt auf, dass beide Stücke über alle Ästhetiken und Dramaturgien hinweg ein und dieselbe destruktive Liebeskonzeption anbieten.

Simon Rattle geht auf volles Risiko, und auch Stefano Montanari dreht mit seinen Musikern in Zürich auf

Der Berliner Eisblock und die Zürcher Urne zeigen, dass die große Liebe für beide Komponisten im Alltag nicht lebbar ist. Sie ist zu radikal für diese Welt, zu egoistisch verzehrend, zu zerstörerisch, zu sehr mit dem Kopf durch die Wand. Gegen dieses Diktum aber wehrt sich die Musik mit allen Mitteln. Auch die Dirigenten erheben mit aller Macht und Leidenschaft dagegen Einspruch, sie sind die zentralen Protagonisten beider Produktionen.

Simon Rattle putscht die Berliner Staatskapelle mit einer Leidenschaft auf, als müsste er ein Melodram von Giacomo Puccini mit prallem Klangleben füllen. So wird hörbar, wie viel romantischer Überschwang noch in dem frühen Erfolgsstück "Jenůfa" steckt, wie viel an Tradition, an Ausführlichkeit, an Realismus und am Aufbegehren dagegen. Das menschenfern Naturhafte, das Janácek später immer härter ausformulieren wird, ist hier noch gefesselt. Stattdessen denkt das Stück traditionell von den Protagonisten her, hängt sich an deren hemmungslos ausgelebte Leidenschaften. Rattle geht auf volles Risiko. Dieser so häufig kontrollierte Musiker entäußert sich schier, er treibt die Sänger zu immer heftigeren Ausbrüchen, er befeuert, jagt, hetzt - und kommt doch immer wieder ins Feine zurück, ins Zarte, Weltzerfallene.

Ganz ähnlich geht Stefano Montanari in Zürich den "Orphée" an. Wobei ihm die zur Exaltation neigende romantische Fassung von Hector Berlioz entgegenkommt, die das Toben erleichtert, das Protestieren, das Schäumen. Gluck hängt immer ein mit Fadheit grundierter Klassizismus an. Den schreddert Montanari mit jedem Taktschlag. Dem Dirigenten und auch der faszinierenden Nadezhda Karyazina als Orphée (ja, den Liebhaber singt hier eine Frau) ist alles Leidenschaft, Verzweiflung, Trauer, Schicksalsanklage.

Orphée (Nadezhda Karyazina) auf dem Sockel mit dem Bildnis seiner Liebsten. Die heißt Euridice und sieht man rechts hinten sitzen (Chiara Skerath). (Foto: Monika Rittershaus)

Das aber ist Christoph Marthaler entschieden zu viel, er inszeniert dagegen an. Zum "Reigen seliger Geister" wälzt sich seine Pantomimengruppe am Boden, ergeht sich in grotesken Verzückungen und komischen Turnübungen, die auch einem Hieronymus Bosch gefallen würden. Die wie beim Kinderfasching explodierende Urne ist schon erwähnt. Immer wieder versucht jemand zu dirigieren, was der Rest der Truppe per Zeigefinger verbietet: Denk dran, draußen tobt die Seuche! Graham F. Valentine, schlaksiges, hochgewachsenes Marthaler-Faktotum, zitiert anfangs ein wenig den Cocteau-"Orphée", zuletzt aus den "Hollow Men" von T. S. Eliot: Ja, das hier ist wirklich das "Kaktusland" der Liebe, in dem der Aufzug sinnlos auf und ab und nirgendwohin fährt.

Der Berliner "Jenůfa"-Regisseur Damiano Michieletto ist da sehr viel weniger radikal in seiner Liebeszerstörung. Der Eisquader ist seine stärkste Idee. Später senkt sich ein tropfender Felsbrocken wie ein Fallbeil aus dem Schnürboden langsam herab und tötet jeden Rest von Liebe. Die sich immer tiefer und mit großem Operngestus in ihre Verzweiflung hineinsingende Camilla Nylund als Jenůfa hat sich schon längst damit abgefunden, dass das mit ihrem Števa nichts wird. Zuletzt muss sie sich mit Laca trösten, den Stuart Skelton faszinierend tapsig und weltunbeholfen gibt, während sein strahlender Tenor einer Liebe nachträumt, die ihm auch diese Jenůfa nicht schenken wird.

So schlagen beide Opern brutal auf dem Boden der Realität auf

Auch in Zürich wird eine Liebesersatzlösung gefunden. Die Urne ist explodiert, die reale Euridice liegt entseelt am Boden, und Orphée, der Sängersuperstar, ist ratlos. Das ist ein Fall für Göttin Amour. Die hinreißende Alice Duport-Percier verzaubert diese nur kleine Rolle - und bekommt eine grandiose "Orfeo"-Arie von Giovanni Battista Pergolesi dazugeschenkt, zum Entzücken des Publikums. Dass Amour, während die Marthaler-Truppe schon ungeduldig und liebesgelangweilt die Bühne für die nächste Vorstellung aufräumt, Euridice zurück ins Leben holt, ist ein zweischneidiger Kunstgriff. Nadezhda Karyazinas Orphée hatte seine/ihre größten Momente beim Jammern und Trauern, in dem aberwitzigen Tonwirbel von "Amour, viens rendre à mon âme", in der Beschwörung der Marthalerschen Totengötter. Fader Alltag dagegen sind die Streitereien mit der aus der Unterwelt freigekommenen Euridice. Und Marthaler ist sich sicher, dass das so weitergehen wird. Gähn.

So schlagen "Jenůfa" wie auch "Orphée et Euridice" zuletzt brutal auf dem Boden der Realität auf. Und man kann sich leicht vorstellen, wie Gluck und Janácek, jeder natürlich mit einer FFP2-Maske, am Zürichsee oder an der Spree spazieren gehen und belustigt ihre so verblüffend ähnlichen Liebesauffassungen kommentieren.

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